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DEKRA Verkehrssicherheitsbericht: Sicherheit oder doch nur Versicherung?

26.06.2023 14:17 Uhr | Lesezeit: 9 min
Dekra Verkehrssicherheitsbericht 2023
Verkehrssicherheit im Zeichen der Digitalisierung des Verkehrs: Versagt der Fahrer, greift die Technik - wenn der Fahrer nicht versagt ...
© Foto: Adobe/disq

Die Dekra hat ihren Verkehrssicherheitsreport 2023 veröffentlicht. Der 16. Report dieser Art beleuchtet zahlreiche Problemfelder aus Sicht der Unfallforschung, der Verkehrspsychologie, der Fahrzeugtechnik, der Infrastrukturgestaltung und der Gesetzgebung.

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Software und Elektronik übernähmen immer mehr Aufgaben und machten das Auto zur rollenden High-Tech-Maschine. Die Erwartungen an die technologische Entwicklung in Sachen Sicherheit seien deshalb enorm. Im gleichen Atemzug würden aber auch Bedenken mit Blick auf potenzielle neue Risiken geäußert. „Es ist wichtig, das gesamte Mobilitätssystem im Auge zu behalten, ebenso wie die wechselseitige Wirkungsdynamik“, so Jann Fehlauer, Geschäftsführer der DEKRA Automobil GmbH, bei der Vorstellung des DEKRA Verkehrssicherheitsreports 2023 „Technik und Mensch“ in Berlin. Die Rolle des Fahrers werde sich wandeln, und mit ihr das Gesamtsystem der Mensch-Maschine-Schnittstelle im Fahrzeug.

Nicht nur die Busbranche bereitet sich darauf vor, dass sich „die Rolle des Fahrers ändern“ werde. Alle Fahrer sind schließlich Fahrer und da menschliches Versagen immer das schlimmste Versagen von allen ist, freuen sich auch alle auf das autonome Fahren – und bis dahin auf die Totalüberwachung von allem, was fährt (oder auch nicht oder nur „mit“). Mit technischem Versagen – auch und gerade in Sachen Datenschutz – kann man leben, da ist nachher wenigstens keiner schuld. Entsprechend wundert es wenig, dass die Dekra ihren Verkehrssicherheitsbericht auch gleich mit den Highlights aus der Hitliste menschlichen Versagens beginnt:

„Abgelenkt, übermüdet, überfordert – die Liste der gängigen Ursachen von Verkehrsunfällen ließe sich beliebig fortsetzen. Oder stark komprimieren: Faktor Mensch. Nach polizeilichen Verkehrsunfallanzeigen der Polizei sind fast alle Verkehrsunfälle mit menschlichem (Fehl-)Verhalten erklärbar. Mängel in Sachen Infrastruktur oder gar Technik werden nur in den seltensten Fällen als ursächlich oder mitursächlich genannt. Die Übertragung möglichst aller Fahraufgaben auf die Fahrzeuge gilt daher für viele als das beste Mittel zur Unfallprävention.“

„Moderne Assistenzsysteme sind die Grundlage für die zunehmende Automatisierung des Straßenverkehrs und können viele Unfälle verhindern oder zumindest die Unfallfolgen minimieren. Gleichzeitig können automatisierte Fahrfunktionen auch neue Problemfelder mit sich bringen“, so Fehlauer. 

In Sachen Unfallvermeidung sei mit Blick auf die „Vision Zero“, die viele Staaten der Welt bis zum Jahr 2050 verfolgen, – also das Ziel eines sicheren Straßenverkehrs, in dem es bei Unfällen möglichst keine Getöteten und Schwerverletzten mehr gibt – noch viel zu tun. Das zeige allein schon ein Blick auf die Entwicklung in der EU. Zwar reduzierten sich die Zahl der Verkehrstoten von 2001 bis 2020 um fast 63,5 Prozent von 51.400 auf 18.800. Allerdings stagnierten die Zahlen seit ungefähr 2012. Der historische Tiefstand im Jahr 2020 lasse sich vor allem mit Einflüssen der Pandemie erklären. Seit der Pandemie stiegen die Zahlen wieder an – auf 19.900 im Jahr 2021 und 22.600 im Jahr 2022. Der prozentuale Rückgang gegenüber 2001 schrumpfe damit auf nur noch 56 Prozent. Weltweit schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Zahl der jährlichen Verkehrstoten auf aktuell rund 1,3 Millionen. 

Ein weiterer Verkehrswende-Slogan: „Game Changer“ für die Mobilität – aber sicher

Automatisierte Fahrsysteme sind nach Ansicht von Kristian Schmidt, dem Europäischen Koordinator für Straßenverkehrssicherheit, ein „Game Changer“. „Vernetztes und automatisiertes Fahren hat ein großes Potenzial, die Mobilität sicherer und zugänglicher zu machen“, schreibt Schmidt im DEKRA Verkehrssicherheitsreport. Aus seiner Sicht ergeben sich aber auch neue Herausforderungen – etwa mit Blick auf Cybersicherheit sowie auf den sicheren Betrieb hochautomatisierter Fahrzeuge im Mischverkehr. „Wir müssen sicherstellen, dass automatisierte Fahrzeuge sicher sind, bevor wir sie auf Europas Straßen fahren lassen. Wenn die Typgenehmigung hier scheitert, kann die gesamte Technologie in Misskredit geraten“, schreibt Schmidt. 

Antonio Avenoso, Geschäftsführer des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETSC), macht sich in seinem Statement für die EU-weite Meldepflicht von Unfällen mit Beteiligung von Systemen für assistiertes und automatisiertes Fahren stark – ebenso wie für eine zentrale Behörde für die Erfassung der so gesammelten Daten, die Überwachung detaillierter Unfalluntersuchungen und die Aufsicht über die sichere Einführung neuer Technologien. „Falls Computercodes oder Sensoren ein Problem verursachen, das zu einem Unfall beigetragen hat, müssen wir das wissen, damit wir zukünftige Probleme vermeiden können“, so Avenoso. 

Assistenzsysteme dürfen weder ablenken noch überfordern

Wie DEKRA Experte Fehlauer in Berlin erläuterte, muss bei aller sinnvollen Technik insbesondere auch immer sichergestellt sein, dass sie den Fahrer nicht ablenkt oder überfordert: „Grundvoraussetzung für den Einsatz von Assistenzsystemen ist, dass sie für alle Nutzer leicht verständlich sind.“ Ihre Bedienung dürfe nicht zu neuen Risiken oder Gefahren führen, mit denen die erzielten Erfolge in der Verkehrssicherheit wieder aufs Spiel gesetzt werden.  

Dass diese Gefahr durchaus besteht, zeigen die von DEKRA exklusiv für den Verkehrssicherheitsreport durchgeführten Untersuchungen: eine Studie mit Probanden zu Bedienkonzepten im Fahrzeug sowie eine forsa-Befragung. In Fahrversuchen auf dem Gelände des DEKRA Technology Centers am Lausitzring in Brandenburg wurde außerdem der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen sogenannte Sensor-Dejustagen auf die Verkehrssicherheit haben können. Mit weiteren Fahrversuchen zeigten die DEKRA Experten, dass das technische Potenzial von Notbremsassistenten in Lkw nicht von allen Herstellern ausgeschöpft wird und dass manche Systeme in ihrer Wirkung durch das Verhalten des Fahrers unbeabsichtigt beeinträchtigt werden können. 

„Die Verantwortung bleibt beim Menschen“

Doch welche Assistenzsysteme in einem Fahrzeug auch immer verbaut sein mögen: Stand heute bleibt die Verantwortung beim Menschen. So müssen die Fahrer jederzeit die volle Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr richten und bei Bedarf eingreifen beziehungsweise die Systeme übersteuern. Das erscheint vor dem Hintergrund des „menschlichen Versagens“ wie eine Milchmädchenrechnung: man setzt auf Technik, um menschliches Versagen auszuschließen, nimmt aber den Menschen in die Verantwortung, um technischem Versagen zuvor zu kommen. Geht es also doch nur um Überwachung und Versicherung? Wer „schuld“ ist zahlt – und damit sich die Versicherung sicher sein kann, hilft eigentlich nur die Technik … ?

„Gerade sehr gut und zuverlässig funktionierende Systeme insbesondere etwa in den Bereichen Abstandsregelung und Spurhalten verleiten viele Verkehrsteilnehmer dazu, sich auch anderen Aufgaben als dem Fahren zuzuwenden“, gab Jann Fehlauer in Berlin zu bedenken. Mehrere schwere Unfälle seien schon die Folge einer solchen Fehleinschätzung bezüglich der Systemauslegung gewesen. Kritisch könnten solche Systeme auch dann werden, wenn der Fahrer gesundheitliche Probleme bekommt und dies nicht erkannt wird.

Bedeutet das, dass auf den Fahrer schlussendlich auch die technische Überwachung seiner Körperfunktionen wartet? Das wäre dann auch und zuerst für Berufskraftfahrer interessant zu wissen. Momentan ist das Sport-Gadget am Handgelenk oder die Puls- und Schlafüberwachungs-App im Handy noch Spielerei. Wo endet nachher der Schrei nach Sicherung der Sicherheit? Wenn es am Fahrer eine USB-Buchse gibt, über die er sich ans Fahrzeugüberwachungssystem anschließen kann, um seine Hirnströme und seinen Aufmerksamkeitsfokus aufzuzeichnen? Viel hilft schließlich immer viel, wenn es um Sicherheit und Versicherungen geht.

Ein Schelm, wer freches dabei denkt, dass mit weiter zunehmendem Automatisierungsgrad die alltägliche Fahrerfahrung zurückgehe. „Sie ist aber gerade in den kritischen Fahrsituationen unabdingbar, in denen ein automatisiertes System wieder an den Fahrer übergibt“, so Fehlauer. Für diese Herausforderung gebe es aktuell noch keine befriedigende Lösung. So ein Dilemma aber auch. Wer haftet da bloß, wenn sich das Dilemma als nicht lösbar entpuppt? Oder gar nur lösbar wäre, wenn sich über die USB-Buchse im Fahrer Fahrerfahrung einspeisen ließe? Gibt’s zum Job dann obligatorisch die zugehörige Festplatte in den Slot gleich neben der USB-Buchse am Fahrer?

Da mutet es beinahe unschuldig an, wenn der GEKRA-Geschäftsführer mahnt, dass alle Verkehrsteilnehmer die Verkehrsregeln „akzeptieren und beachten“ müssen. Man stelle sich das analog zu den „frei von Farb- und Konservierungsstoffen laut Gesetz“-Aufdrucken auf allen möglichen Lebensmittelverpackungen vor, deren Hersteller damit werben, dass sie sich an die Gesetze halten. Als hätten sie die Wahl, sich nicht an die Gesetze zu halten – wo es nicht draufsteht, ist es auch nicht drin. „Der Bewerber akzeptiert die Verkehrsregeln und hält sie stets ein“ – wenn ihn das mal nicht aus der Menge seiner Mitbewerber exorbitant heraushebt … . Doch Scherz beiseite. In jedem Moment erfordere die Teilnahme am Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht, sagt der DEKRA Geschäftsführer. „Bis auf weiteres ist und bleibt es der Mensch, der durch sein Verhalten den wesentlichen Beitrag zur Sicherheit im Straßenverkehr leistet.“ 

DEKRA-Verkehrsbericht online einsehbar

Der DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2023 „Technik und Mensch“ steht online unter DEKRA-roadsafety zum Download zur Verfügung. Dort finden sich auch sämtliche Vorgänger-Reports inklusive weitergehender Inhalte, etwa in Form von Bewegtbildern oder interaktiven Grafiken.     

Zehn DEKRA Forderungen für mehr Verkehrssicherheit 

  • Der Ansatz einer kooperativen Assistenz, bei dem die Technik den Menschen unterstützt und seine Schwächen ausgleicht, sollte Vorrang haben vor technologielastigen Lösungen, die den Menschen nur noch als „Problemlöser“ benötigen.
  • Um den Nutzen von Assistenzsystemen sicherzustellen, müssen Fahrzeugführer besser über den jeweiligen Anwendungsbereich sowie über die Systemgrenzen und die Bedienung informiert sein. Diese Informationen müssen nicht nur Erst-, sondern auch Zweit- oder Drittnutzern der Fahrzeuge zur Verfügung stehen. Hochautomatisierte Systeme müssen auch komplexe Verkehrssituationen einschließlich der Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern adäquat entschlüsseln und schlussfolgernd interpretieren können. 
  • Wenn ein System die Fahraufgabe übernommen oder wieder abgegeben hat, muss dies dem Nutzer eindeutig angezeigt werden.  Die Mindestanforderungen an die von den Herstellern definierten Betriebsbereiche für automatisierte Fahrzeuge müssen eindeutig geregelt werden. Dazu sind Festlegungen über Parameter wie Geschwindigkeit, Straßenklasse und Witterungsbedingungen erforderlich. 
  • Eine ergonomisch-effektive Cockpitgestaltung muss die jeweiligen Informationen zeitgerecht, relevant, situationsspezifisch und klar verständlich darstellen. 
  • Dringend erforderlich ist die herstellerunabhängige Standardisierung sicherheitsrelevanter Bedienfunktionen bezüglich der Anordnung, des Anbringungsorts und der Handhabung der Bedienelemente im Fahrzeug-Cockpit. 
  • Auch bei den heutigen Systemen der aktiven und passiven Sicherheit muss das sich noch bietende Potenzial zur Unfallvermeidung oder Verminderung der Unfallfolgen konsequent erschlossen werden. Die Automatisierung ist kein schnelles Allheilmittel. 
  • Die Funktionsfähigkeit mechanischer und elektronischer Komponenten der Fahrzeugsicherheit muss über das gesamte Fahrzeugleben hinweg gewährleistet sein und systematisch im Rahmen der technischen Fahrzeugüberwachung geprüft werden. Die dafür erforderlichen Informationen müssen bereitgestellt werden. 
  • Im Sinne der Vision Zero muss aktiv nach Gefahrenstellen gesucht werden, um diese dann schnellstmöglich mittels baulicher und/oder nachvollziehbarer verkehrsregelnder Maßnahmen zu entschärfen. Dabei müssen die Anforderungen moderner Assistenzsysteme berücksichtigt werden.
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