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Mobilitätswende macht krank: Kommentar zum 9-Euro-69 für 365 Jahre Ticket

18.07.2022 12:23 Uhr | Lesezeit: 5 min
Mobilitätswende macht krank: Kommentar zum 9-Euro-69 für 365 Jahre Ticket
Das 9-Euro-Ticket habe sich als „Attraktivitätsbooster für den ÖPNV“ erwiesen, so zahlreiche Stimmen aus der Politik. Doch es gibt Kritik.
© Foto: iStock/AscentXmedia

Die politisch verordneten Begeisterungsbekundungen rund um das 9-Euro-Ticket inspirieren zu weiteren Forderungen. Nachdem VDV und SPD am vergangenen Freitag mit der Idee eines 69-Euro-Tickets aus der Hecke gesprungen waren, wärmte nun die CDU ihren Vorschlag zur Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets in Hamburg wieder auf.

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Dort fordern die „Christdemokraten“ ein solches schon seit Jahren. Entsprechend müssten der derzeitige Erfolg des 9-Euro-Tickets und die in ganz Deutschland gestiegenen Fahrgastzahlen für den rot-grünen Senat ein Weckruf sein, so CDU-Fraktionschef Dennis Thering. „Wir benötigen in unserer Stadt eine Ausbau- und Preisoffensive für den ÖPNV. Nur so werden wir die verkehrlichen Herausforderungen der Zukunft meistern.“

Auf die Menschen kämen in den nächsten Monaten ohnehin enorme Kostensteigerungen zu. Eine generelle Erleichterung bei den Mobilitätskosten sei dadurch mehr als angebracht. Immerhin zeige die hohe Nachfrage nach den 9-Euro-Tickets, „dass die Bevölkerung durchaus bereit ist, attraktive Angebote im öffentlichen Personenverkehr zu nutzen“.

Wie arg sich die Menschen über die mobilitätsgewandelten Attraktionen im ÖPNV freuen dürfen, lässt sich einer Stellungnahme der Gewerkschaften EVG und GDL entnehmen. Beide Verbände zeigen sich äußerst besorgt über die Situation der Deutschen Bahn. „Ich habe solche Zustände wie in diesem Sommer noch nie erlebt“, so der stellvertretende Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Martin Burkert, gegenüber der Zeitung Welt am Sonntag. „Ich habe bei einem Zug von Rostock nach Hamburg gesehen, wie Menschen buchstäblich aus dem Zug gefallen sind, als die Türen geöffnet wurden.“

Burkert stellt auf „Abnutzungserscheinungen“ ab, die der 9-Euro-bedingte Fahrgast-Ansturm auf den Nahverkehr seit Anfang Juni begründe. Schäden seien bereits sehr früh aufgefallen. „Aufzüge sind defekt, Toiletten in Zügen funktionieren nicht mehr, es wird einfach alles sehr stark belastet“, so Burkert. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiteten an ihrer Belastungsgrenze, die Krankenstände stiegen an. „Wir merken: Das Neun-Euro-Ticket macht krank.“ Man könnte argumentieren, dass der Bus-ÖPNV zum Glück nicht die Bahn sei. Doch täglich jagen die Meldungen einander, dass „wegen Corona“ auch immer mehr Busfahrer fehlen. Und an Bussen geht „Nutzung bis zum Erbrechen“ (oder Rausplumpsen) auch nicht spurlos vorbei. Schon gar nicht, wenn die Busse situationsbedingt über eher heruntergekommene Straßen rumpeln dürfen.

Wie gut, dass und wenn das Rollmaterial privaten Unternehmen gehört. Die sind selber in der Pflicht, ihre Ausstattung in Form zu halten. Und wie praktisch, dass die Politik auch schon nach einer Nahverkehrsabgabe für alle gerufen hat. Ein Steuer-Tröpfchen für den Tropf, an dem der ÖPNV über kurz oder lang hängen wird. Wer schon etwas älteren Semesters ist und den „deutschen Osten“ noch live erlebt hat, weiß, wie Bus und Bahn nachher aussehen. Und Straßen und Schienen sowieso. Weil man Geld ja nicht einfach drucken soll, wegen der Inflation. Aber wer will sich schon mit solchen Äußerlichkeiten belästigen. Hauptsache, das „Angebot“ ist da.  

Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL jedenfalls, Claus Weselsky, redete Tacheles in der Welt am Sonntag und sprach von einem „Chaos in diesem Sommer“, wie er es noch nie erlebt habe bei der Bahn. „Das ist der absolute Super-Gau“, sagte er der Zeitung. Der Zustand des Staatskonzerns sei „durch jahrelanges Kaputtsparen katastrophal“. Eine Entwicklung, der dank dem 9-Euro-Tickt und seiner „Anschlüsse“ auch die Busunternehmen im Land entgegensehen? Auf aufgezwungenes – wenn schon nicht eigenes – unternehmerisches Risiko?

9-Euro-Ticket fortsetzen - aber wie? Worthülsen des Wohlklangs

Die Lösung des Problems klingt vielversprechend: Um einen verlässlicheren Betrieb und weniger Baustellen-Störungen zu erreichen, haben die Bahn und Bundesverkehrsminister Volker Wissing eine „Generalsanierung“ der wichtigsten Strecken ab 2024 angekündigt. „Ich erwarte, dass wir in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können“, sagte der FDP-Politiker, der die Netzsanierung auch gleich zur „Chefsache“ erklärte.  Und wie sieht es mit einer „Generalsanierung der wichtigsten Strecken“ im Busliniennetz aus? Welche Strecken sind da überhaupt „die wichtigsten“? Und kommt das Geld dafür dann auch aus einer ominösen Mobilitäts- oder Nahverkehrsabgabe, die dank Inflation und Energiepreisexplosion vorne und hinten nicht reichen kann?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich bereits skeptisch zu einer Nahverkehrsabgabe zum Ausbau von Bus und Bahn geäußert. Die Alternativ-Vorschläge klingen aber auch nicht gerade nach Licht am Ende des Tunnels. Denn die Kritik des DGB richtet sich vor allem darauf, dass eine soziale Staffelung der Abgabe fehle, weshalb Reiche und Arme gleichermaßen belastet würden. Baden-Württembergs DGB-Vizechefin Maren Diebel-Ebers sieht deshalb eine Arbeitgeber-Abgabe für den Ausbau des Nahverkehrs als bessere Alternative zur Finanzierung des Mobilitätspasses. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Dann zahlen (auch) die Busunternehmen (extra) dafür, dass sie ihre Angebote überhaupt machen können. Das erscheint wie eine sehr schwarzhumorige Version von „wer einen Beitrag zum Gelingen der Gesellschaft leisten möchte, zahle bitte dafür und erwarte von seinem Engagement nicht die Etablierung und Aufrechterhaltung (s)einer wirtschaftlichen Existenz“. Schon gar keiner unabhängigen, denn der Anschluss an den „staatlichen Fördert(r)opf“ ist unter den aufdämmernden Bedingungen unvermeidbar und obligatorisch.  

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, wie sich Diebel-Ebers die Arbeitgeber-Abgabe vorstellt: Selbige solle sich an der Lohnsumme der Beschäftigten eines Unternehmens orientieren. Die Krux: „Das Ziel des Verkehrsministeriums, bis 2030 das Angebot zu verdoppeln, geht nur mit doppelt so vielen Beschäftigten.“ In allen Bereichen des Öffentlichen Personennahverkehrs im Südwesten arbeiten den Angaben zufolge rund 80 000 Menschen. Um die Verdoppelung zu erreichen, müssten 100.000 bis 120.000 zusätzliche Beschäftigte gewonnen werden. Diebel-Ebers verwies in dem Zusammenhang darauf, dass auch die Männer und Frauen ersetzt werden müssten, die in den Ruhestand gingen. Man fragt sich, was einem die Herren, Damen und Diversen Politiker mit ihren Überlegungen verklickern wollen. Nach einem echten Plan jedenfalls klingt so ziemlich keine der Strategien, mit denen sie aufzuwarten versuchen. Immerhin sind sich alle einig in der Forderung, dass von Bund und Ländern mehr Geld kommen müsse und dass die Schuldenbremse das größte Hindernis sei.  

Wie gut also, dass jedwede anstehenden Beratungen in den nächsten Wochen zeigen werden, „was sozial und verkehrspolitisch angemessen und realisierbar sei“, verlautbarte die SPD-Fraktion in ihrer „Begrüßung des Vorschlags für eine bundesweite Anschlusslösung zum 9-Euro-Ticket“. „Der Bund, der mit dem 9-Euro-Ticket den Anfang gemacht hat, ist jetzt in der Pflicht, sich in die Debatte um eine tragfähige Preisgestaltung einzubringen und einen großen Beitrag zur Finanzierung zu leisten“, meint jedenfalls Dirk Kienscherf, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Vorsitzender der SPD-Fraktion. Das 9-Euro-Ticket habe sich als „Attraktivitätsbooster für den ÖPNV“ erwiesen. Dieses Momentum müsse genutzt werden, um die Mobilitätswende im Sinne des Klimaschutzes voranzubringen.

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