Während Kriminalstatistiken vordergründig von einer Abnahme der Gewalt im öffentlichen Raum berichten, nehmen Angriffe auf bestimmte Berufsgruppen weiterhin zu. Auch Busfahrer finden sich unter diesen Berufsgruppen, erst in der vergangenen Woche machten wieder mehrere Meldungen von Angriffen auf Busfahrer auf sich aufmerksam. Neben Busfahrern sind immer häufiger auch Feuerwehrleute und Notfallsanitäter betroffen, Arzthelferinnen und weitere Professionen, verstörenderweise solche, die sowohl der Gemeinschaft als auch dem Einzelnen in durchaus besonderer Weise dienen. Warum das so ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Die Gründe erscheinen vielfältig, reichen praktisch in jeden denkbaren gesellschaftlichen Bereich hinein und stehen zugleich in Wechselwirkung zueinander. Und tatsächlich taucht nur ein Bruchteil aller Vorkommnisse in irgendwelchen Statistiken auf. Diesem „Hellfeld“ steht eine Dunkelziffer gegenüber, die alles Aktenkundige um ein Vielfaches übersteigt.
„Vielleicht liegt diese Zunahme der Gewalt in bestimmten Bereichen an der immer weiter fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft“, sagt der Konflikttrainer und Coach Dr. Matthias Wolter von Kompetenz-Sieben, einer Gruppe von Experten, die sich auf die Vermittlung von Kommunikationsstrategien auch für Grenzsituationen spezialisiert haben. „Es lässt sich eine Tendenz zu größerer Ich-Bezogenheit beobachten“, meint Wolter, „eine Art Ich-Will-Kultur, in der sich das Individuum als Mittelpunkt der Welt wahrnimmt und einem übersteigerten Anspruchsdenken unterliegt.“ Grundsätzlich ist gegen Anspruchsdenken nichts einzuwenden, bis zu einem gewissen Grad ist Egoismus eine Notwendigkeit. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad, und das Maß für diesen Grad scheint manchem Zeitgenossen bisweilen abhanden zu kommen. Trifft das mit einer wenig entwickelten Fähigkeit zu Selbstregulation und Resilienz zusammen, mit Frustrationserlebnissen und Druck, mit Alkohol, diversen Drogen, psychischen Problematiken oder einer niedrigen Hemmschwelle, steigt mit jeder dieser Zutaten das Risiko für diverse Gewaltausbrüche auch gegen Busfahrer – seien die Angriffe nun verbal, handgreiflich oder offen lebensbedrohend.
Konfliktlösungsseminare: oft nicht an Busfahrer-Bedürfnissen ausgerichtet
Bedauerlicherweise decken die meisten Programme und Weiterbildungen zum Thema Konfliktmanagement allenfalls den verbalen „Unzufriedenheitskonflikt“ ab. Daher rühren dann Tipps und Anweisungen wie „immer freundlich bleiben“, den Kunden „dort abholen, wo er steht“, ihn „in seinen Bedürfnissen wahrnehmen“ und ähnliches. Alles schön und gut, aber was, wenn der Krawallbruder das Pfefferspray schon im Anschlag, die abgebrochene Flasche bereits gezückt oder schon einmal zugeschlagen hat? Ist dann immer noch lächeln und freundlich bleiben angesagt?
Wohl eher nicht. Aber: was dann? Selbstverteidigung lernen? Kann man machen – dann sind aber mindestens fünfmal die Woche zwei Stunden Intensivtraining angesagt, und das ein paar Jahre lang, erst dann hat man die Chance, zu beherrschen, was man beherrschen möchte. Matthias Wolter findet Kurse, in denen nur „ein paar Handgriffe“ vermittelt werden, deshalb fast schon grob fahrlässig. Ein Bewusstsein für die Problematik und eine gewisse, daraus resultierende Ratlosigkeit sieht er bei vielen Teilnehmern seiner Kurse. Die Fahrer wissen, was sie leisten können und was nicht, was sie schnell lernen können und was nicht. Und was sie jetzt brauchen und nicht erst nach sonstwieviel „Weiterbildung“ brauchen dürfen. Zumal ihr Berufsalltag sie bevorzugt mit Situationen konfrontiert, die „normale“ Konflikttrainer in ihrer Komplexität und ihrem Gewaltpotenzial gar nicht richtig erfassen können, weil sie sie selber noch nie erlebt haben.
„Busfahrer sind harte Jungs“
„Busfahrer sind harte Jungs, und trotzdem höre ich oft so etwas wie die haben doch gar keine Ahnung, womit ich es zu tun habe“, sagt Wolter. Deshalb gehen Wolter und sein Team im Konflikttraining von Busfahrern keinen vorrangig kundenorientierten Weg: Die Trainer setzen beim Fahrer selbst an. Und bei dem, was ihn von seinen vorhandenen Kompetenzen in Sachen Konfliktlösung trennt.
„Der Witz ist nämlich, dass jeder gut 80 bis 90 Prozent dessen, was er braucht, um brenzlige Situationen zu entschärfen, bereits kann“, sagt Wolter. „In der Regel ist den Fahrern das aber nicht bewusst.“ Die Fahrer konzentrieren sich auf eine andere Baustelle, speziell die „Emotionen-außen-vor-lassen-Baustelle“, die auch vielfach propagiert wird, weil man ja nicht „emotional“ werden soll. Dass und warum das kontraproduktiv ist und auch noch jede Menge Energie und Ressourcen bindet, die einem dann nicht für die Lösung oder Entschärfung eines Konfliktes zur Verfügung stehen, verrät kaum jemand. Matthias Wolter sieht deshalb den Schlüssel darin, sich genau mit dem, was man „außen vor lassen möchte“, zu beschäftigen: den eigenen Emotionen. „Es liegt so viel Potenzial darin, etwa die eigene Wut zu erleben, anzuerkennen, dass man zum Beispiel leicht reizbar, trotzig und grundsätzlich absolut gewaltbereit ist. Ich selber bin ein leuchtendes Beispiel dafür. Es geht aber eben nicht darum, diese scheinbar ‚dunklen‘ Seiten der eigenen Persönlichkeit zu unterdrücken, um ‚immer freundlich zu sein‘. Es geht darum, die aus der eigenen Natur resultierenden Impulse zu beherrschen und sich in seinem Handeln nicht von ihnen lenken zu lassen, sondern die Steuerung bewusst selbst zu übernehmen.“ Trotz der Emotionen und mit ihnen. Dabei ist es ganz egal, in welche Richtung Emotionen gehen. Es gibt weder „gute“ noch „schlechte“ Emotionen, weder solche, die man „haben sollte“ noch solche, die man „nicht haben sollte“. Alle Emotionen bewegen uns, ob wir wollen oder nicht, ob wir es merken oder nicht. Wer aber seine aus den Emotionen erwachsenden Impulse beherrscht, kann steuern, ob und inwieweit er sich wann bewegen lässt oder selbst entscheidet, wie er sich bewegen will.
Konfliktlösung & Selbstverteidigung: Übung macht den Meister
„In der beschriebenen Art der Impuls-Selbstkontrolle liegt aus meiner Sicht der Schlüssel zu jeder Art der Konfliktlösung, insbesondere in jenen Situationen, die wirklich brenzlig sind“, sagt Matthias Wolter. Indem man Impulse kontrolliert, kontrolliert man zugleich seine Bewegungen. Und das auf mehreren Ebenen. Man kontrolliert die jeweilige Bewegung als solche – etwa wie man den Kopf neigt, sich ab- oder zuwendet, nach etwas greift, lächelt, kuckt, die Stimme klingen lässt, wenn man etwas sagt – und man kontrolliert die Geschwindigkeit, mit der man die Bewegungen ausführt. „Dieser Geschwindigkeit kommt in der Impuls-Selbstkontrolle enorme Bedeutung zu“, verrät Wolter. „Ich spreche im Zusammenhang gern von professioneller Langsamkeit. In Situationen, in denen die Dinge zu eskalieren drohen, wirkt Langsamkeit der Eskalation entgegen.“ Professionelle Langsamkeit entschleunigt alle Dinge, auch die beim Gegenüber. Und das hilft nicht zuletzt, die Impuls-Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten und nicht zuletzt auch die Worte, die man benutzt, bewusst zu wählen – weil man sich selbst nicht zuletzt Zeit zum Überlegen verschafft – und eben nicht „intuitiv“ (oder besser: impulsiv) mit Forderungen oder einem Befehlston aus der Hecke springt, wo dergleichen von vornherein nicht funktionieren kann. „Man muss das Fass leeren, das in einem Konflikt überzulaufen droht – und Langsamkeit und Bewusstheit sind die Schlüssel dazu“, ist Wolter überzeugt.
Im Rahmen des Trainings bei Wolter und Kompetenz Sieben werden vor allem solche Verhaltensweisen – Bewegungen – trainiert, über die wir tagtäglich unbewusst unsere Befindlichkeiten und Gedankeninhalte kommunizieren – im Grunde also das, was nicht wirklich „Körpersprache“ ist, sondern vielmehr Ausdrucksverhalten. Durch das Training wird ein maßgeblicher Teil dieser Verhaltensweisen aus der Unbewusstheit herausgeholt und zu echten Werkzeugen gemacht. „Das ist das, was ich meine, wenn ich sage, dass jeder 80 bis 90 Prozent dessen, was er glaubt, lernen zu müssen, schon kann“, sagt Matthias Wolter. „Wir leiten die Fahrer an, sich bewusst zu machen, was sie – ganz automatisch und konkret – tun, wenn sie dieses oder jenes bewusst oder unbewusst nonverbal ausdrücken.“ Die Fahrer untersuchen beispielsweise, wie sie sich verhalten, wenn sie in Stress geraten und welches Bild sie dabei in den Augen eines Gegenübers abgeben, welche Emotionen bei ihnen wodurch und ganz individuell getriggert werden und was das wiederum beim Gegenüber bewirkt. Wie dieser oder jener Blick „rüberkommt“, diese oder jene Neigung des Kopfes, diese oder jene Stimmlage, Haltung, Handlung etc. „Holen wir diese Verhaltensweisen aus der Unbewusstheit heraus und trainieren sie, machen wir sie zu einem immer verfügbaren Instrumentarium, zu Techniken, die man bewusst einsetzen kann, weil man in der Lage ist, vorherzusagen, welche Reaktionen sie beim Gegenüber am wahrscheinlichsten hervorrufen werden.“ Die meisten Menschen wissen gar nicht, dass sie über solche Techniken verfügen – weil sie das, was sie können, nicht als Technik betrachten. Aber das genau ist der Clou.
Konfliktlösung: Nur weil sich einer was denkt, hat er noch lange nicht recht
Professionelle Langsamkeit eröffnet aber noch eine weitere Tür: die in die Sichtweise des Gegenübers. Nur weil sich einer was denkt, hat er noch lange nicht recht. Von Bedeutung ist diese Erkenntnis vor allem vor dem Hintergrund, dass wir alle dazu neigen, uns aus den möglichen Beweggründen eines anderen immer genau denjenigen als zutreffend auszusuchen, der für uns selbst am schlimmsten ist. Wer mit dem, was er denkt, aber bewusst umgehen kann – nicht zuletzt auch, weil er sich die Zeit dafür nimmt – kann überlegen, welche weiteren Gründe ein Gegenüber für sein Handeln haben könnte – außer denen, die man aus seinem Verhalten spontan und unreflektiert ableitet oder gar von sich selbst projiziert. Jemand kann einen Busfahrer wegen einer Verspätung brachial attackieren – weil die Verspätung empfindlichste persönliche Konsequenzen hat. Oder er kann schlicht und ergreifend auf Aufmerksamkeit aus sein und darauf, dass er jemandem mal sein Leid „klagen“ kann. Er kann eine psychische Störung haben und professionelle Unterstützung brauchen – oder suchtkrank sein, auf Entzug oder unter Medikamenteneinfluss stehen. Oder er kann wirklich Ärger suchen und keine Interventionsversuche des Busfahrers brauchen, sondern eine Horde Polizisten mit Handschellen und Knastwagen. In jedem einzelnen Fall ist eine andere Art der Handlung und damit der Kommunikationsausrichtung gefragt – auf die man als involvierter Fahrer nur kommt, wenn man eben die eigenen Impulse unter Kontrolle hat und keine Energie auf die „Beherrschung“ (oder besser: Unterdrückung) von Emotionen verschwendet.
Fazit
Kein Konflikt ist unlösbar. Aber: Konfliktlösung braucht Selbsterkenntnis, Know-how und Training. Übung macht bekanntlich den Meister. Und der Meister hat nicht nur das erforderliche Werkzeug, er ist dieses Werkzeug zugleich in sich selbst und durch sich selbst. Wer das begriffen hat, kann den eigenen Körper als Werkzeug einsetzen – zumal jeder genau dafür einen Körper hat. Wer sich dessen, was er kann, bewusst ist, wer seine Fähigkeiten bewusst einsetzt und nicht automatisch alles glaubt, was er sich so denkt (nur weil er sich was denkt …), handelt weder impulsiv noch emotional und schöpft dennoch das Potenzial seiner Emotionen und seiner Intuition voll aus.
In diesem Sinne: Erleben Sie sich Ihre Fähigkeiten! Denn er-leben bedeutet sich durch leben aneignen. Und lassen Sie nicht außen vor, was Sie lebendig macht. Das sind Ihre Emotionen. Und Ihr Lebendigsein gilt es, zu verteidigen.