Drei Monate 9-Euro-Ticket, Zeit für eine Bilanz. Was die Menschen schätzen: Es ist extrem günstig. Vielleicht aber noch viel wichtiger: Es ist extrem einfach und bietet einen unkomplizierten Zugang zum ÖPNV. So spricht die ganze Republik über Bus und Bahn wie nie zuvor. Doch wie geht es nach der Aktion im September weiter? Betrachten wir zunächst die Auswirkungen in verschiedenen Bereichen:
Entlastung: Ohne Frage, war das Ticket eine – wenn auch kurzfristige – finanzielle Entlastung für diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen können.
Lenkungswirkung: Das Ticket sollte die Menschen in Bus und Bahn locken und eine Verlagerung des Verkehrs vom Pkw auf Öffentliche Verkehrsmittel bewirken. Allerdings haben laut Umfragen des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) nur zwischen drei und zehn Prozent der Käuferinnen und Käufer das Auto stehen lassen. Damit bleibt das Ticket weit hinter den eigenen Ansprüchen zurück. In Großstädten, wo ein gutes Fahrplanangebot besteht und die Bürger ohnehin den ÖPNV im Alltag nutzen, ist das Ticket erwartungsgemäß gerne gekauft worden. Wo es aber kein Fahrplanangebot gibt, konnten die Bürgerinnen und Bürger das Ticket nicht nutzen, zahlen es aber als Steuerzahler üppig mit – rechnerisch finanziert jeder Deutsche, vom Baby bis zum Rentner, das 9-Euro-Experiment mit 30 Euro Steuergeld.
Klima: Stattdessen wurde das Ticket vor allem für Ausflugsfahrten genutzt und hat nach Angaben des Thinktanks Agora Verkehrswende sogar mehr Verkehr erzeugt. Etwa 25 Prozent der Fahrten sind nur wegen Vorhandenseins des Tickets angetreten worden. Fest steht: Energiesparen ist das Gebot der Stunde, das gilt auch im Verkehr. Ein Mehr an Fahrten durch das 9-Euro-Ticket passt nicht zu Minister Habecks Energiespar-Appellen.
Erwartungshaltung: Die Ampel hat mit dem 9-Euro-Ticket eine riesige Erwartungshaltung bei den Menschen geschaffen, die sie nicht erfüllen kann. Für das ganze Jahr würde ein solches Ticket zehn Milliarden Euro kosten. Zum Vergleich: Die Regionalisierungsmittel, also die Mittel des Bundes für den SPNV und ÖPNV vor Ort in den Ländern, lagen 2020 bei 8,6 Milliarden Euro. Seit Jahrzehnten arbeiten Controller und Marketingfachleute bei privaten wie kommunalen Verkehrsbetrieben daran, bei den Kunden um eine entsprechende Zahlungsbereitschaft für eine kostenintensive Dienstleistung zu werben. Dieses Preisgefüge und Wertigkeitsgefühl ist mit dem 9-Euro-Ticket massiv gestört: Alles, was jetzt kommen mag, wird als überteuert empfunden, ab jetzt gilt „Geiz ist geil“ auch in Bus und Bahn. Das Fahrplanangebot aber ist durch das 9-Euro-Ticket nicht attraktiver geworden.
Verkehrsbetriebe: Zur Wahrheit gehört auch, dass das Billigticket die ÖPNV-Unternehmen in Deutschland, die ohnehin durch die Energiekostensteigerungen, Investitionen in Elektro- oder Wasserstoffbusse und Corona-Pandemie stark getroffen sind, in eine finanziell noch schwierigere Lage gebracht hat. Allein um den Status Quo des Fahrplanangebots zu halten, braucht es höhere Fahrpreise – oder deutlich mehr staatliche Mittel.
Eine verpasste Chance
In der jetzigen Form bringt das 9-Euro-Ticket mehr Nach- als Vorteile. Bei der Ausarbeitung einer Anschlusslösung müssen offen und ehrlich Lehren aus dem dreimonatigen Experiment gezogen werden. Allerdings drängt die Zeit, denn selbst wenn die Bundesregierung es wollte und finanziell in der Lage wäre: Für ein steuerfinanziertes Anschlussmodell ab dem 1. September läuft ihr die Zeit davon. Um den Schwung des 9-Euro-Tickets mitzunehmen, den Zeitraum ab 1. September provisorisch zu überbrücken und zum Fahrplanwechsel am 7. Oktober ein günstiges „Volksticket“ gleich welcher Qualität und Preislage anbieten zu können, wäre eine Sondersitzung des Kabinetts mit einem entsprechenden Beschluss samt Finanzierungsplan in der parlamentarischen Sommerpause nötig gewesen. Dies wäre die Ampel auch den Verkehrsunternehmern schuldig gewesen, damit diese rechtzeitig ihre Verkaufsabläufe und die Fahrscheinautomaten umstellen können.
Dieser Startschuss für eine Folgelösung ist ausgeblieben, ab 1. September gilt wieder der allseits beschworene – und sozialpolitisch übrigens immer gewollte – Tarifdschungel: mit den alten Fahrpreisen plus inflationsbedingter Preiserhöhung. Busfahrer, Lokführer und Zugbegleiter sind jetzt schon hochgradig belastet. Die nun zu erwartende Empörungswelle enttäuschter Fahrgäste wird dem Betriebspersonal im ÖPNV den Rest geben.
Was nun?
Bei „Versuch Nummer 2“ sollte sich die Ampel – statt einer kurzfristigen Gießkannenlösung – vor allem auf den Pendlerverkehr konzentrieren. Der Grund, warum Menschen jenseits von Ramschpreisen auf den ÖPNV umsteigen, ist vor allem: ein alltagstaugliches Fahrplanangebot. Mit den 2,5 Milliarden Euro, die das 9-Euro-Ticket gekostet hat, hätte jeder der rund 35.000 Linienbusse in Deutschland vier Stunden extra täglich fahren können, und zwar ein ganzes Jahr lang. Dennoch gilt: Eine Ausweitung der Bedienungszeiten morgens, nachts und am Wochenende sowie Taktverdichtungen vor allem in ländlichen Regionen, Bahnreaktivierungen, neue Schnellbuslinien in Landstrichen ohne Schiene und flexible Door-to-Door-Systeme mit Kleinbussen sind der Schlüssel, damit Pendler ihr Auto regelmäßig stehen lassen: So können wirklich nachhaltige und relevante CO2-Einsparungen erzielt werden. Für die Aufrechterhaltung des Angebots braucht es mehr Regionalisierungsmittel und weitere Mittel, um das Fahrplanangebot außerhalb der Metropolen auszubauen.
Es fehlt schlicht das Fahrpersonal
Jegliche Ausweitungen des ÖPNV-Angebots erfordern zusätzliches Fahrpersonal. Schon jetzt fehlen zigtausend Busfahrerinnen und -fahrer, Triebfahrzeugführerinnen und -führer. Der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmen (bdo) spricht von 36.000 fehlenden Fahrern bis 2030. Wenn die Hürden zur Anwerbung oder Ausbildung von Fahrpersonal nicht gesenkt werden, scheitert die Verkehrswende am Fahrermangel morgens zwischen sechs und neun.
Es braucht mehr Unterstützung der Verkehrsunternehmen bei der Umrüstung auf klimafreundliche Antriebe. Und eine neue Tarifgestaltung muss her. Dafür sollte die Bundesregierung jetzt alle Akteure an einen Tisch bringen und verhandeln. Für Durchtarifierungsverluste müssen kommunale wie private Linienbetreiber einen Ausgleich erhalten. Ziel muss ein bundesweites, einfaches und für Pendler günstiges Handy-Ticket im Abo als Alternative zum Pkw sein.
Forderung nach höheren Regionalisierungsmitteln
In der letzten Wahlperiode haben CDU/CSU und SPD schon eine große Schippe Regionalisierungsmittel für Bus und Bahn draufgelegt – ein guter Anfang. Darauf könnte die Ampel jetzt aufbauen. Meine Forderung: Mehr Regionalisierungsmittel, damit die Verkehrsbetriebe ihr Angebot in Zeiten kriegsbedingt explodierender Dieselkosten aufrechthalten können, und weitere Mittel, um das Fahrplanangebot im ganzen Land auszubauen! Nur bei einem alltagstauglichen Angebot steigen Pendler um – nicht nur als Gaudi für einen Ausflug, sondern täglich! Und erst dann hilft‘s auch dem Klima.
Der Autor: Henning Rehbaum (48) ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags. Rehbaum hat einen Lkw- und einen Busführerschein und war zwölf Jahre in der Unternehmensleitung bei privaten, konzerngebundenen und kommunalen Verkehrsunternehmen tätig. Er wohnt mit seiner Frau und drei Kindern im Kreis Warendorf (NRW).