Die 22 EU-Staaten mit einem allgemeinen Mindestlohn erhöhten diesen im Mittel (Median) um 9,7 Prozent. Besonders stark fielen die nominalen Zuwächse in vielen osteuropäischen Ländern aus, aber auch die Niederlande (+12,9 Prozent) und Irland (+12,4 Prozent) haben ihren jeweiligen Mindestlohn deutlich angehoben. In Deutschland fiel die Anhebung zum Jahreswechsel mit einem nominalen Plus von nur 3,4 Prozent auf nun 12,41 Euro hingegen deutlich kleiner aus; EU-weit stieg der Mindestlohn nur in Belgien (+2,0 Prozent) noch langsamer. Das ergibt der neue internationale Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Die schwache Entwicklung in Deutschland fällt in eine Zeit, in der die Bundesregierung die EU-Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umsetzen muss – dazu haben die Mitgliedsstaaten nur noch bis zum 15. November 2024 Zeit. Die Richtlinie nennt als Referenzgrößen für einen angemessenen Mindestlohn unter anderem mindestens 60 Prozent vom Medianlohn im jeweiligen Land oder 50 Prozent vom Durchschnittslohn. Die Schwelle von 60 Prozent des Medians erreicht oder überschritten haben in der EU lediglich Portugal, Slowenien und Frankreich. Weitere Staaten orientieren sich bei Mindestlohnanhebungen aber bereits explizit an diesem Niveau, zeigt die Studie. Der Mindestlohn in Deutschland hat sich durch die geringfügige Anhebung und die Entwicklung des allgemeinen Lohnniveaus wieder von dieser Zielmarke entfernt und liegt erheblich darunter. Bereits 2023 wäre zur Erfüllung des 60-Prozent-Kriteriums ein Mindestlohn von 13,61 Euro nötig gewesen, im laufenden Jahr von rund 14 Euro, so Berechnungen der Forscher auf Basis von aktuellen Eurostat-Daten.
Preisentwicklung relativiert Mindestlohnanhebungen
Die jüngsten Mindestlohnanhebungen relativieren sich, wenn die gestiegenen Lebenshaltungskosten gegengerechnet werden. Der WSI-Mindestlohnbericht verwendet hierfür die jahresbezogene Inflationsrate des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) als auf EU-Ebene üblichen Maßstab. Real stiegen die Mindestlöhne in 14 EU-Ländern nach dieser Rechenweise gegenüber dem Vorjahreszeitpunkt um ein Prozent oder mehr, in sieben davon sogar um mindestens fünf Prozent. Im EU-Mittel lag der Kaufkraftgewinn des Mindestlohns bei 2,5 Prozent. Deutschland gehört zu einer Gruppe von nur sechs Ländern, in denen der Mindestlohn real um ein Prozent oder mehr fiel.
Auch wenn für Deutschland der nationale Verbraucherpreisindex (VPI) verwendet wird, schafft die jüngste Anhebung hierzulande keinen Inflationsausgleich. Gemessen am VPI stiegen die Preise zwischen Oktober 2022, dem Zeitpunkt der vorangegangenen Anpassung, und Januar 2024 um 3,6 Prozent und damit stärker als der Mindestlohn. Auch bei der längerfristigen Entwicklung schneidet Deutschland vergleichsweise schwach ab: Seit 2015 legte der deutsche Mindestlohn real um 15,2 Prozent zu. Dieser Kaufkraftgewinn ist aber fast vollständig der außerordentlichen Erhöhung auf 12 Euro durch den Gesetzgeber im Oktober 2022 zu verdanken.
Aktuelle Mindestlöhne in der EU
Mit einem Mindestlohn von aktuell 12,41 Euro steht Deutschland unter den EU-Ländern an Position vier, nachdem die Bundesrepublik im Vorjahr durch die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro noch den 2. Rang innehatte. Ein deutlich höherer Mindestlohn gilt in Luxemburg (14,86 Euro) und den Niederlanden (13,27 Euro), auch Irland (12,70 Euro) liegt vor Deutschland. Mit geringem Abstand folgt Belgien (12,09 Euro). Dort wird, wie in Frankreich (11,65 Euro), die Lohnuntergrenze auch unterjährig erhöht, sodass beide Länder weiter aufschließen dürften.
Kein gesetzlicher Mindestlohn existiert in Österreich, den nordischen Ländern und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze.
Osteuropäische Länder haben aufgeholt
Die Mindestlöhne in den süd- und den osteuropäischen EU-Staaten liegen niedriger als in Westeuropa. Anders als noch vor einigen Jahren unterscheiden sich die süd- und die osteuropäischen Länder aber nicht mehr so stark voneinander. So reichen die Lohnuntergrenzen von 7,25 Euro in Slowenien, 6,87 Euro in Spanien und umgerechnet 6,10 Euro in Polen über beispielsweise 5,65 Euro in Litauen, 4,85 Euro in Portugal oder 4,69 Euro in Tschechien bis zu 4,51 Euro in Griechenland. Die EU-weit niedrigsten Mindestlöhne gelten in Ungarn mit umgerechnet 4,02 Euro, Rumänien mit 3,99 Euro und Bulgarien mit 2,85 Euro. Insgesamt hat sich die Spreizung innerhalb der EU trotz weiterhin erheblicher Unterschiede laut WSI-Studie beträchtlich verringert:
Legt man aber Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich der Abstand zwischen den EU-Ländern mit niedriger und relativ hoher Untergrenze spürbar auf knapp das 2,5-fache.. Polen (in KKS 8,38 Euro), Slowenien und Litauen liegen bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor allen südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Das Preisniveau in Deutschland liegt über dem europäischen Durchschnitt, sodass der Mindestlohn in KKS niedriger ausfällt und 9,94 Euro beträgt. Bei den westeuropäischen Nachbarn ist dieser Effekt noch größer, sie fallen entsprechend zurück.